«Nur ein bisschen Zucker» gibt es nicht

«Nur ein bisschen Zucker» gibt es nicht

Für die meisten war der vergangene Sonntag ein Sonntag wie jeder andere – nur wenige wissen, dass seit über zehn Jahren am 14. November der Welt-Diabetestag begangen wird. Um auch in der Region Olten die öffentliche Wahrnehmung für Ursachen, Anzeichen und Behandlung dieses in der Umgangssprache häufig als «Zuckerkrankheit» bezeichneten Übels zu wecken und zu fördern, organisierten die Abteilungen Ernährungs- und Diabetesberatung des Kantonsspitals Olten gemeinsam verschiedene Aktionen.

Die Zahlen klingen düster: Während es 1985 weltweit schätzungsweise 30 Mio. Menschen gab, die an Diabetes litten, sind es heute fast 200 Mio., darunter immer häufiger auch junge Menschen. In der Schweiz sind rund fünf Prozent der Bevölkerung betroffen – davon fast 50 Prozent ohne es zu wissen. Experten bezeichnen die Krankheit bereits als globale Epidemie und gehen davon aus, dass sie zur Volkskrankheit Nummer 1 des 21. Jahrhunderts avancieren wird. Besonders tückisch dabei: Diabetes ist eine Erkrankung, die häufig auf leisen Sohlen kommt – jahrelang nicht entdeckt, bringt oft erst der Zufall den Befund zu Tage. «Im Durchschnitt dauert es neun Jahre, bis die Diagnose Diabetes gestellt wird», erzählt Dr. Matthias Stahl, Internist und Diabetologe am Kantonsspital Olten. «Die meisten Erkrankten kommen gar nicht auf die Idee, dass sie an Diabetes leiden könnten. Deshalb empfehlen wir allen über 40-Jährigen, regelmässig ihren Glukosewert messen zu lassen. Oft werden bei Beschwerden, die auf Diabetes zurückzuführen sind, andere Ursachen vermutet, oder die Krankheit wird heruntergespielt und nicht ernst genommen.» So seien schon des Öfteren Patienten zu ihm gekommen und hätten ihm berichtet, sie hätten «nur ein bisschen Zucker», so Stahl. «<Nur ein bisschen Zucker> gibt es aber nicht», erklärt der leitende Arzt schmunzelnd. «Entweder man hat Diabetes oder nicht.»

Schon die Ärzte der Antike kannten den «honigsüssen Urinfluss», so die wörtliche Übersetzung von Diabetes mellitus, der am häufigsten auftretenden Art von Diabetes, unter der rund 90 Prozent aller Betroffenen leiden. Aber erst in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Wissenschafter die Wirksamkeit und Anwendungsmöglichkeiten des Hormons Insulin entdeckten, wurde eine Behandlung der Krankheit überhaupt möglich. Bis heute ist Diabetes jedoch eine Erkrankung geblieben, die oft unterschätzt wird. Völlig zu Unrecht, wie Statistiken beweisen: 50 Prozent aller Amputationen, 30 Prozent aller Nierentransplantationen, 30 Prozent aller Fälle schwerer Impotenz sind Diabetes bedingt. Für an Diabetes Erkrankte vervierfacht sich das Hirnschlag-Risiko; sie bekommen fünfmal häufiger einen Herzinfarkt als nicht an Diabetes leidende Personen, und leiden 20-mal häufiger an Arterienerkrankungen. Diabetes ist die Hauptursache für Erblindung in der Schweiz, und die durch Diabetes jährlich verursachten Behandlungskosten übersteigen inzwischen die Fünf-Milliarden-Franken-Grenze.

Erschreckende Zahlen – doch wie kommt es überhaupt zu Diabetes? Weit verbreitet sei die Annahme, dass der Zucker in unserer Nahrung die «Zuckerkrankheit» verursache, erzählt Stahl. Diese völlig falsche Einschätzung zeige, wie dringend und gross der Aufklärungsbedarf rund um die Krankheit noch immer sei. Und Martina Hediger, Ernährungsberaterin am Kantonsspital, ergänzt: «Der Welt-Diabetestag, der in diesem Jahr den Zusammenhang von Diabetes und Ernährung thematisiert, bietet einen schönen Anlass, das Spitalpersonal, das täglich Kontakt zu Diabeteskranken hat, für die Materie zu sensibilisieren.» Und so organisierten die beiden Abteilungen Ernährungs- und Diabetesberatung nicht nur einen Infostand mit vielfältigen Informationen rund um das Thema Diabetes, sondern führten am vergangenen Freitag auch ein kostenloses Blutzuckermessen durch. Zudem wurde in der Cafeteria während einer Woche ein Alternativ-Menü angeboten, das unter dem Motto «Gesund geniessen» stand.

Denn eines ist sicher: Diabetes wird zwar nicht vom Zucker in der Nahrung verursacht, hat aber mit der durch Übergewicht verursachten sinkenden Insulinsensibilität der Körperzellen und somit sehr wohl einiges mit unserer Ernährung zu tun. Was einst als Überlebensstrategie für die Menschheit galt – Kalorien speichern und Reserven anlegen -, ist heute längst überholt. Während sich unsere Vorfahren mit Hungersnöten herumschlagen mussten, findet sich heute fast an jeder Strassenecke eine Imbissbude. Die meisten Menschen der westlichen Welt essen zu viel und bewegen sich zu wenig. Dies wirkt sich langfristig verheerend aus: In den USA sind bereits zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig oder fettleibig. Und auch die Schweiz wurde von der Fett-Epidemie längst heimgesucht: In den vergangenen Jahren wuchs die Zahl der Übergewichtigen um sieben Prozent. Knapp 40 Prozent der Bevölkerung bringen zu viele Kilos auf die Waage. Übergewicht und seine Folgeerkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes, verursachen pro Jahr rund 2,7 Milliarden Franken Gesundheitskosten. «Besonders beängstigend», meint Matthias Stahl, «ist vor allem der dramatische Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen.» Dadurch entstünden ganz neue Krankheitsbilder: «Heute bekommen ja schon Jugendliche Hirnschläge und Herzinfarkte», erzählt Stahl. Ernährungsberaterin Hediger schiebt vor allem dem Fast Food die Schuld in die Schuhe: «Praktisch alle Fast-Food-Speisen haben viele Kalorien und wenig Nahrungsfasern. Das heisst, sie haben eine hohe Energiedichte», erklärt sie. «Das Problem von Speisen mit hoher Energiedichte und wenig Ballaststoffen ist, dass sie den Blutzuckerspiegel hochschnellen lassen, aber schon nach kurzer Zeit ebenso rasant wieder absacken lassen. Die Folge davon ist erneuter Heisshunger.» Deshalb sei nicht nur für Diabetiker eine Ballaststoff reiche Ernährung von Vorteil: «Wer genügend Ballaststoffe zu sich nimmt, hat irgendwann ein Sättigungsgefühl und gerät nicht in Gefahr zu viel zu essen», so Martina Hediger.

Ganz wichtig ist für die Ernährungs- und Diabetesexpertinnen im Kantonsspital aber eines: «Diabetes gerechte Ernährung kann durchaus genuss-voll sein!», sind die acht Fachkräfte überzeugt, und Hediger ergänzt: «Die meisten Diabetiker benötigen gar keine Sonderdiät, sondern einfach nur eine gesunde, ausgewogene Ernährung. Und auch die ganzen Spezialprodukte für Diabetiker sind nicht unbedingt zu empfehlen.» Viel wichtiger sei es, Kalorien zu reduzieren, den Konsum von Fett, Fleisch und Süssem einzuschränken, viele komplexe Kohlehydrate zu sich zu nehmen und viel Obst und Gemüse zu essen. Dass das durchaus schmecken kann, davon liessen sich die Angestellten des Kantonsspitals gerne überzeugen. Jeder Dritte entschied sich in der vergangenen Woche für das «Gesund geniessen»-Menü und kostete so leckere Gerichte wie Spaghetti mit Lachs-Dillsauce und Romanesco-Rösli, Kichererbsen Stroganoff, Fischroulade mit Gemüsefüllung an Broccolisauce, Pouletbrüstli im Rohschinkenmantel auf Gemüse-Olivenbeet und Sellerie-Piccata auf Tomatensauce.

Ein kleiner Piks Personen über 40 Jahre solllten regelmässig ihren Blutzuckerwert überprüfen lassen, allen anderen schadet es auch nichts. kdk

ERNÄHRUNGS- UND DIABETESBERATUNG

Die Ernährungs- und Diabetesberatung des Kantonsspitals steht allen Betroffenen und Interessierten beratend zur Seite, hilft bei der Krankheitsbewältigung und bietet zahlreiche informative Tipps rund um die gesunde Ernährung. Für ein Beratungsgespräch benötigt man eine Arztüberweisung. Weitere Informationen sind erhältlich unter der Homepage www.kso.ch oder Telefon 062 311 44 91. (kdk)

Insulin-Mangel und -ResistenzZuckerhaushalt Zwei Arten der Diabetes-Krankheit

Ein gesunder Zuckerhaushalt funktioniert folgendermassen: Der Körper gewinnt Zucker (Glukose) aus der Nahrung. Über die Blutbahn wird er zu allen Körperzellen transportiert, die ihn aufnehmen und zur Energiegewinnung nutzen. Im gesunden Körper ist das Wechselspiel zwischen Zuckerwerten im Blut und Zuckeraufnahme in die Zellen ausgewogen. Die Zucker-Konzentration im Blut wird durch spezielle Fühler zu jedem Zeitpunkt gemessen und über das Gehirn gesteuert. Ist der Zuckerspiegel hoch – zum Beispiel nach einer Mahlzeit -, ergeht ein Befehl an die Bauchspeicheldrüse, das Hormon Insulin zu produzieren. Insulin wird daraufhin freigesetzt und übermittelt als Bote den Körperzellen, dass sie Zucker aus dem Blut aufnehmen sollen. Dadurch sinkt der Zuckerwert im Blut. Das Gehirn registriert die Veränderung und gibt den Befehl an die Bauchspeicheldrüse, die Produktion von Insulin wieder einzustellen.

Bei einem Diabetiker ist dieser fein aufeinander abgestimmte Regelmechanismus gestört. Aufgrund von Stoffwechselstörungen ist der Blutzuckergehalt erhöht. Die Ursachen dafür sind komplex: Nebst einer genetischen Veranlagung spielen vor allem klassische Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine Rolle: ein ungesunder Lebensstil (unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen etc.) sowie Übergewicht. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von Diabetes.

Diabetes Typ I: Insulin-Mangel

Beim Diabetes Typ I ist die Bauchspeicheldrüse nicht mehr in der Lage, genügend Insulin zu produzieren. Aus bisher unbekannten Gründen greift das körpereigene Abwehrsystem die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse an und zerstört sie. Besonders betroffen von dieser Autoimmunerkrankung sind jüngere Menschen. Diabetes Typ I ist die häufigste von allen hormonell bedingten Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, und die Zahl der betroffenen Kinder nimmt stetig zu. Der Grund hierfür ist allerdings derzeit ebenso ungeklärt wie die genauen Ursachen der Krankheitsentstehung.

Diabetes Typ II: Insulin-Resistenz

Beim Diabetes Typ II ist die Sprachverständigung zwischen den Körperzellen und dem Insulin gestört. Die Bauchspeicheldrüse produziert eigentlich genügend Insulin, aber die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in die Körperzellen ist gestört (Insulin-Resistenz). Der Blutzuckerspiegel ist deshalb ständig erhöht, was nicht nur zu einem vermehrten Ausscheiden der Glukose über den Urin, sondern auf lange Sicht auch zu Schädigungen an den unterschiedlichsten Organen und Geweben führt – Blutgefässe, Augen, Nerven und Nieren sind davon besonders betroffen. Der Diabetes Typ II ist der weitaus häufigere und tritt überwiegend im mittleren und späteren Lebensalter auf. In 80 Prozent aller Fälle ist er mit Übergewicht verbunden.

About Author:

Leave A Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *