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Mit Heidi auf

Jugend macht Schlagzeilen. Aber wie eng ist der Zusammenhang zwischen Schlagzeilen und Alltag? Ein Augenschein in der Rheinfelder Schulanlage Engerfeld, wo unter anderem Real, Bez und Berufsschule untergebracht sind.

7.30 Uhr, der Strom der Schüler schwillt an und verwirbelt den Gipfeli-Duft aus der Mensa. Die 3. Real beginnt mit der Musikstunde. «Wir können wählen, was wir singen; das ist toll», sagt Duresa beflissen. Die Favoriten der Klasse sind altbekannt: Bea tles, «Das alte Haus von Rocky-Docky» und Mani Matters «Sidi Abdel Assar vo El Hama».

Was neu ist: Im Musikzimmer hängen pink lackierte E-Gitarren an der Wand, und es gibt vorgedruckte Arbeitsblätter zu DJ Bobo. «Das interessiert sie aber nicht, das sei für die Jüngeren», sagt Klassenlehrerin Rita Scheidegger. Dann noch lieber Mozart. Was sie am meisten interessiert, haben die Schülerinnen und Schüler in Vorträgen präsentiert. Bei den Mädchen ist das etwa Sarah Connor («. . . besitzt Hasen, Pferde und zwei Labrador-Babys»). Die Buben ziehen Rapper wie Nelly vor («. . . besitzt Schmuck für 5 Millionen Dollar und 400 Paar Nike- Sneakers»).

Rita Scheidegger erinnert sich an die Vorträge über die Hip-Hop-Stars: «Da kamen ganz spezielle und gewalttätige Biografien zum Vorschein. Aber die Schüler haben glaubhaft versichert, dass die Musik und diese Vorgeschichten zwei verschiedene Dinge sind.» Es gibt auch die gegenteilige Behauptung. Dashmir legt seine Stirn in Falten: «Bei einigen hat Hip-Hop vielleicht schon einen nicht so guten Einfluss.» Wenig Gefahr sieht Ljiljana: «Liebeslieder nimmt ja auch niemand ernst.» Warum sollte man das mit gewalttriefenden Songs tun?

Gleich wie früher sind die Farbstiftschachteln mit dem Matterhorn und die Fahrplan-Dialoge im Französisch. Anders ist heute, dass im Klassenzimmer zwei iMacs stehen und die Mathematikstunde von Zeit zu Zeit im Informatikraum stattfindet. Die Lektionengrenzen lösen sich ohnehin auf. Biologie ist auch Mathematik («Wenn wir 100 000 Haare haben und die 0,3 Millimeter pro Tag wachsen, wie gross ist der Zuwachs insgesamt?»), Deutsch («Wie schreibt man Lid?») und allgemeine Lebenshilfe («Was bewirkt Wimperntusche?»). Die Antworten sind zahlreich, widersprüchlich und meist von den Mädchen.

Die Mathematikstunde beginnt mit der Korrektur von Bewerbungsschreiben. Die sind auf dem Schulserver gespeichert, jeder Schüler hat dort ein eigenes Profil. An der Wand hängen selbst gestaltete Plakate zu den Wunschberufen: Coiffeuse, Logistiker, Büroassistentin. «Am Anfang wollten alle Detailhandelsfachmann oder -frau werden», sagt Diego. Aber das habe sich etwas gelegt. Einer will als Astronaut schnuppern. Im Gang hängen Franz-Aufsätze zur Berufswahl. Titel: «Rêve et réalité», Traum und Wirklichkeit.

Nach den Bewerbungen repetiert die Klasse auf www.allgemeinbildung.ch Winkelbezeichnungen und die Teile des menschlichen Auges. «Heute schon gelernt?» ist das Motto der Homepage. Die Schülerinnen und Schüler haben gelernt. Zumindest berichten sie von stundenlanger Vorbereitung für das Diktat. Dieses Diktat ist eine A4-Seite lang und füllt die Lektion fast. Eski geht die Tinte aus. Dashmir bittet deshalb zu warten – nicht das einzige Beispiel praktizierter Rücksicht.

Rita Scheidegger hält die Aussagen zur Diktat-Vorbereitung für glaubwürdig. «Aber die Schülerinnen und Schüler vergessen vieles unglaublich schnell.» Sie hat schon manche Klassen unterrichtet und stellt fest: Die geistige Belastbarkeit nehme ab. «Sie sind mehr Reizen ausgesetzt.» Dafür könnten sie im Schlaf chatten, surfen, alle elektronischen Geräte bedienen, ohne eine Anleitung. Aber das zählt für die Noten nicht.

Was heute noch gleich ist wie früher: Auf dem Einfasspapier der Schreibhefte sind bunte Töfffahrer. Die Etuis sind mit Pferdebildern und mit dicken Filzstift-Aufschriften («Ich liebe dich», «Ferrari») verziert. Was anders ist: Das Sicherheitsmerkblatt («Was tun bei Bombendrohungen?») und das grosse Verbotsschild, das MP3-Player, Kaugummi, Handy und alle Mützen aus dem Schulzimmer verbannt.

Für die Kopftücher gilt das nicht, die in der Pause vereinzelt auf den Gängen zu sehen sind. In der 3. Real trägt kein Mädchen ein Kopftuch. Religion ist dezent präsent: «Es bringt kein Kind während des Ramadans einen Geburtstagskuchen, damit alle essen können.» 4 der 17 Kinder haben Schweizer Wurzeln.

Keine Unterschiede gibt es bei den Hobbys der 3. Real: «Freundinnen treffen und shoppen», so die Vorlieben aller Mädchen. Bei der einen kommt Schwimmen dazu, bei der anderen Tanzen. Bei den Buben gibt es zwei Abweichungen vom Einheitshobby Fussball: Modellautos. Shoppen mögen sie auch.

Dafür sind sie eigentlich recht unauffällig angezogen. Zumindest wenn man von einer altersspezifischen Unauffälligkeit ausgeht: goldene Turnschuhe oder Skechers, die so spitz sind, dass man damit Kakerlaken in der Ecke zertreten kann. Wer bezahlt das Shopping? «Ich bekomme eigentlich fast alles bezahlt, was ich brauche», sagt Mario. Fatih: «Wir übertreiben ja auch nicht.» Vier «Dolce & Gabbana»-Logos zählt der modisch unbedarfte Beobachter, ahnungslos, ob Original oder Imitat.

Wie aus dem Schaufenster wirkt die Klasse aber nicht. Muss man bestimmte Kleider tragen? «Nicht zu kurz», findet Duresa mit den spitzen Stiefeln ernsthaft. Erkältungsgefahr? Gefährlich ist Mode offenbar schon, sagt Fatihs Erfahrung: «Einmal sah es nur so aus, als hätte ich ein Hosenbein im Socken. Und schon wollten ein paar Punks auf mich losgehen.»

Warum geht man auf andere los? «Wenn dir langweilig ist und sowieso schon alle schlecht von dir denken», sagt Heidi. Und damit hätten dann alle ein Pro blem: «Drei Junge machen Mist, und alle sind schuld.» Duresa analysiert: «Die Älteren fordern immer Respekt von der Jugend, aber sie haben selbst oft keinen Respekt für die Jugend.» Sie selbst wolle sich Mühe geben, auch wenn es nicht einfach ist. Alle nicken. Und geben sich froh, dass sie in Rheinfelden wohnen. Obwohl es laut Heidi nichts zu tun gibt. Fatih sagt: «In Basel sind die Jugendlichen viel häufiger auf der Strasse, und da macht man automatisch mehr Mist.»

Was noch ganz ist wie früher: Vor der grossen Pause klauben einige Schüler ihre Bogen mit den Pausenapfel-Bons hervor. Neu ist, dass Rita Scheideggers Schüler Zeitung lesen. Sie freut sich, auch wenn es nur «20 Minuten» ist. Und auch wenn nicht allzu viel hängen bleibt: «Beim Stichwort Seebach gab es nur Schulterzucken, als ich bei den Mädchen sehen wollte, ob es Diskussionsbedarf gibt.» Die Schülerinnen wussten noch nichts von den Vorfällen.

In den grossen Pausen spielen die Jüngeren, die Älteren schwatzen, niemand gibt sich sichtbar aggressiv. «Gewalt in der Schule kommt in Wellen», sagt Standortleiterin Karin Küng. «Zurzeit ist die Stimmung normal.» Schwierig sei es gewesen, als in der Pause Schweizer Jugendliche aus der rechtsextremen Szene auf nicht minder konservative Türken getroffen seien. Zudem wurden Fehden aus der Freizeit in der Schule weitergesponnen.

Muss man einfach immer auf ein Gewalt-Wellental hoffen? «Man muss streng sein», sagt Rita Scheidegger. Und aufmerksam: «Wenn alle in eine Richtung rennen, ist das sehr verdächtig.» Übers Handy werde schnell mobilisiert.

Streng sein gilt nicht nur bei fliegenden Fäusten, sondern auch bei lockerem Mundwerk. Rita Scheidegger: «Es benutzt sicher niemand derbe Ausdrücke, wenn ich in Hörweite bin.» Mit der jetzigen Klasse habe das von Anfang an funktioniert, für andere war zuerst ein Bussensystem nötig. «Schlampe» war teurer als «Arschloch», noch kräftigere Flüche wurden auf dem Verfahrensweg geahndet.

«Untereinander sprechen viele Kinder so, ohne es böse zu meinen», sagt Scheidegger. «Schade ist, dass unsere Schüler oft nicht merken, dass sie gegenüber Erwachsenen nicht so sprechen können.» Da gebe es durchaus Unterschiede von Schulstufe zu Schulstufe.

Der Schultag endet englisch, in Stunde Nummer acht und neun. Übung 6, «Write these sentences correctly: ‹me ? like you do›». Hip-Hop kommt später.

Biologie: Was bewirkt Wimperntusche?

Gewalt wegen Hip-Hop? «Liebeslieder nimmt auch niemand ernst»

DJ Bobo sei für die Kleinen. In der Real ist Mani Matter gefragt

«Ältere fordern Respekt von der Jugend, aber haben selbst keinen für die Jugend»

Diktat Rita Scheideggers 3. Realklasse zeigt Einsatz und fordert Respekt.

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